Kennen Sie die Geschichte Ihres Hauses?

Berlin Geschichten Die Schwestern Lily und Elsa Katz

Nikolsburger Platz 4, 10717 Berlin und Wielandstraße 30, 10629 Berlin

Lily Katz, Hannover   |  © Sylvia Paskin, London
Lily Katz, Hannover | © Sylvia Paskin, London

“Ich wurde 1944 in eine Flüchtlingsfamilie hineingeboren – mein Vater Lothar stammt aus Hannover, meine Mutter Mimi aus Wien.”

Sylvia Paskin
.

Wir lebten in Wembley, einem Vorort von London. Die Außenwelt hieß britisches Sparprogramm, Lebensmittelrationierung, Smog, Empire Day Feierlichkeiten in der Schule. Im Hausinnern empfing dich Mtteleuropa. Die Möbel meiner extravaganten Großmutter Lily verliehen jedem Zimmer eine besondere Atmosphäre: An Sonnabenden buk meine Mutter Wiener Spezialitäten: Linzertorte, Apfelstrudel, Spitzbuben, Sachertorte, alles natürlich mit Schlagsahne. Am Sonntagvormittag grübelte mein Vater über dem Schachbrett, am Nachmittag erschienen die Freunde meiner Eltern zum Tee – es waren Deutsche, Österreicher, Ungarn, Tschechen, allesamt Kontinentaleuropäer. Deutsch lernte ich so wie durch Osmose.

Unvergesslich ist für mich meine Angst vor einem riesenhaften schwarzen Möbel aus Japan, das unseren Flur bis zur Decke verdunkelte. In das Holz dieses Schranks waren Adler, Drachen und Affen geschnitzt, für mich waren es Monster, die mich in meinen Träumen verfolgten. Das Innere des Schrank barg magische Schätze: böhmisches Kristall, Dresdener Porzellan, Damasttischtücher in zarten Rosétönen mit eingesticktem Monogramm und ein schweres silbernes Kaffeeservice mit runder Form. Der Schrank mit seiner Magie, Perserteppiche, Meissener Porzellanfiguren, Gemälde – all das gehörte einmal meiner Großmutter. Mein Vater war ihr einziges Kind aus ihrer Ehe mit Ludwig Sauer.

Lily Knips mit ihrem dreijährigen Sohn Lothar    |  © Sylvia Paskin, London
Lily Knips mit ihrem dreijährigen Sohn Lothar | © Sylvia Paskin, London

Lily wurde Hannover geboren, aber sie lebte in Berlin. Nach der Scheidung von Ludwig Sauer, ihrem ersten Ehemann, heiratete sie Franz Knips. Franz Knips, der nicht jüdisch war, verstarb bereits 1935. Damals lebte Lily in der Freiherr-vom-Stein Straße 8 in Schöneberg. Aus dieser Wohnung zog sie in die Wielandstraße 30 in Charlottenburg.

Lily Knips geb. Katz (links)      |  © Sylvia Paskin, London
Lily Knips geb. Katz (links) | © Sylvia Paskin, London

Doch Lily erkrankte an einer Depression. Eine unglückliche und tragische Liebesbeziehung kam hinzu. Während ihrer Fluchtvorbereitungen in Berlin hatte sie einen Mann kennen gelernt. Josef Jakobs handelte mit gefälschten Pässen, die er verfolgten Juden verkaufte. Er selbst war kein Jude. Lily und Josef Jakobs verliebten sich ineinander und begannen eine Liebesbeziehung, die abrupt endete, als die Gestapo ihn aufspürte, verhaftete und in das KZ Sachsenhausen verschleppte. Der ihm von der Gestapo angebotene Deal, als Spion für die Abwehr tätig zu werden, schien seine einzige Überlebenschance. Von englischem Boden aus sollte er Wettermeldungen für die Luftwaffe ins Deutsche Reich funken.

Mit einem Fallschirm wurde er im Januar 1941 über England abgeworfen, brach sich beim Aufprall den Knöchel und wurde auf der Stelle von der British Home Guard festgenommen.

Ein Zettel mit Lilys Name und Adresse wurde in seiner Tasche gefunden. Ob er wirklich vorhatte, als Spion für die Deutschen zu arbeiten? Hatte er Lily mit hineinziehen wollen? Oder wollte er nach Lily suchen, damit sie ihn versteckte?

Als ehemaliger Soldat der Wehrmacht wurde Josef Jakobs inhaftiert, verhört und vor Gericht gestellt, bevor er im Tower von London erschossen wurde. Die Ironie des Schicksals bescherte ihm eine gewisse Bekanntheit: Josef Jakobs ist der letzte Häftling, der im Tower von London erschossen wurde.

Sein gewaltsamer Tod und ihr eigenes Leben als Flüchtling waren zu viel für Lily. Mit Gas setzte sie ihrem Leben 1943 ein Ende. Lily wurde nur 52 Jahre alt. Mein ebenso strahlender wie verstörter Vater hat sich von diesem Schicksalsschlag niemals erholt.

Elsa Katz als junges Mädchen   |  © Sylvia Paskin, London
Elsa Katz als junges Mädchen | © Sylvia Paskin, London

Lily besaß eine Schwester: Elsa, geboren 1890. Sie verheiratete sich mit Alfons Majewski, ließ sich aber später von ihm scheiden. Elsa war ausgebildete Krankenschwester, doch die Nazis verboten ihr die Ausübung ihres Berufes. Am Nikolsburger Platz 4 wohnte sie in einem Haus, in dem außer ihr noch zehn andere jüdische Mieter lebten. 1940 wurde sie aus diesem Haus vertrieben und zwangsweise in ein sog. Judenhaus in der Holsteinischen Straße 9 eingewiesen. Am 13. Juni 1942 wurde sie von Gleis 13 vom Bahnhof Grunewald nach Sobibor deportiert und dort unmittelbar nach der Ankunft ermordet.

.
Elsa Katz, 1942   |  © Sylvia Paskin, London
Elsa Katz, 1942 | © Sylvia Paskin, London

Das Mietshaus am Nikolsburger Platz 4 wurde von Bomben vollkommen zerstört. An seiner Stelle befindet sich heute der Spielplatz der benachbarten Cecilien Grundschule. Gemeinsam mit den Schülerinnen und Schülern legte der Künstler Gunter Demnig Stolpersteine für jene elf Menschen, die aus diesem Haus deportiert wurden. Jedes Jahr am 9. November legen die Schülerinnen und Schüler Rosen für die Ermordeten auf die Stolpersteine und zünden Lichter an.

Nachdem Elsa deportiert wurde, verkaufte der Vermieter ihre zwei Sofas mit Sofakissen für 10 Reichsmark, mehr Besitz war ihr nicht geblieben. Im Brandenburgischen Landeshauptarchiv in Potsdam liegt eine Akte, in der es heißt, „die Jüdin Elsa Majewski schuldet dem Deutschen Reich eine Steuer in Höhe von 90 Reichsmark“.

Das Zuhause meiner Kindheit besaß wunderschöne objets d’art und herrliche Möbel, und die Räume füllten sich mit dem Lachen unserer Gäste. Waren wir allein, spiegelten sie die Schatten der Vergangenheit, eine ungewisse Schuld und die unermesslichen Lücken, die sich nie mehr schließen würden.

Der tragischen Familiengeschichte von Lily und Elsa vermochte niemand von uns zu entkommen, auch nicht dem Wissen über das, was meinen Großeltern in Wien angetan wurde.

Sylvia Paskin, London, 2018

Die Schwestern Lily und Elsa Katz
Sylvia Paskin hat bei DMAO 2018, 2019, 2023 und 2024 an ihre Großmutter und Großtante erinnert.
Die Schwestern Lily und Elsa Katz
Unterstützen Sie DMAO!

Mit Ihrer Spende setzen Sie ein Zeichen für eine weltoffene, vielfältige und demokratische Gesellschaft.

Unsere Partner